OHNE TITEL (unbekannter Autor)
Immer enger wird mein Denken
immer blinder wird mein Blick,
mehr und mehr erfüllt sich täglich
mein entsetzliches Geschick.
Kraftlos schlepp ich mich durchs Leben,
jeder Lebenslust beraubt,
habe keinen, der die Größe
meines Elends kennt und glaubt.
Doch mein Tod wird euch beweisen,
dass ich jahre-, jahrelang
an des Grabes Rand gewandelt,
bis es jählings mich verschlang.

EIN LICHT GEHT NACH DEM ANDERN AUS von Max Herrmann-Neiße
Ein Licht geht nach dem andern aus
Und immer dunkler wird das Haus.
Ich bin allein beim Lampenschein,
Ein Leuchtturmsgeist in all der Nacht,
Der in dem Schlaf der andern wacht
Und Angst hat, auf dem Meer zu sein.
Schon liegen sie, wie Tote tun,
Als probten sie, im Grab zu ruhn,
Und nur ihr Atem flackert sacht.
Ich fürchte dieses Schlafes Bann,
Der mich für immer halten kann,
Und bleibe wach in all der Nacht.
Für immer schloß vielleicht das Tor,
Von dem der Schlüssel sich verlor,
Bin ich vom Feind umstellt.
Verfallen ist mein Vaterhaus,
Ein Licht geht nach dem andern aus,
Und immer dunkler wird die Welt.

DER HERBST DES EINSAMEN von Georg Trakl
Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.
Und hier und dort ein Kraut auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.
Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden,
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

IN EIN ALTES STAMMBUCH von Georg Trakl
Immer wieder kehrst du, Melancholie,
O Sanftmut der einsamen Seele.
Zu Ende glüht ein goldener Tag.
Demutsvoll beugt sich dem Schmerz der Geduldige,
Tönend von Wohllaut und weichem Wahnsinn.
Siehe! Es dämmert schon.
Wieder kehrt die Nacht und klagt ein Sterbliches,
Und es leidet ein anderes mit.
Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.

DER PANTHER von Rainer Maria Rilke
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich langsam auf - dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

KLEINES BEISPIEL von Rainer Maria Rilke
Auch ungelebtes Leben
geht zu Ende
zwar vielleicht langsamer
wie eine Batterie
in einer Taschenlampe
die keiner benutzt
Aber das hilft nicht viel:
Wenn man
(sagen wir mal)
diese Taschenlampe
nach so- und so vielen Jahren
anknipsen will
kommt kein Atemzug Licht mehr heraus
und wenn du sie anmachst
findest du nur deine Knochen
und falls du Pech hast
auch diese
schon ganz zerfressen
Da hättest du
genauso gut
leuchten können.

GEBET von Hermann Hesse
Wenn ich einmal vor deinem Antlitz stehe,
Dann denke, wie du mich allein gelassen,
und denke, wie ich irrend in den Gassen
Verwaist und trostlos war in meinem Wehe.
Dann denke jener schrecklich dunklen Nächte,
Da ich in Not und heißem Heimweh bangte
Und wie ein Kind nach deiner Hand verlangte
Und da du mir versagtest deine Rechte.
Und denke jener Zeit, da ich als Knabe
Zu dir zurück an jedem Tage kehrte,
Und meiner Mutter, die mich beten lehrte
Und der ich mehr als dir zu danken habe.

NACHT IN LONDON von Erich Fried
Die Hände
vor das Gesicht halten
und die Augen
nicht mehr aufmachen
nur eine Landschaft sehen
Berge und Bach
und auf der Wiese zwei Tiere
braun am hellgrünen Hang
hinauf zum dunkleren Wald
Und das gemähte Gras
zu riechen beginnen
und oben über den Fichten
in langsamen Kreisen ein Vogel
klein und schwarz
gegen das Himmelblau
Und alles
ganz still
und so schön
dass man weiß
dieses Leben lohnt sich
weil man glauben kann
dass es das wirklich gibt
